Freek Lomme | Beobachtungsbefunde

Kurt's Zimmer - Karin van Pinxteren
Kurt’s Zimmer | installation | mixed media | 380 x 380 x 296 cm | Kurt’s Zimmer Walz by Maarten van der Vleuten | 2006 (photo Peter Cox)

Beobachtungsbefunde

zum Projekt Kurt’s Zimmer von Karin van Pinxteren

Als ich Karin van Pinxterens Kurt’s Zimmer Publikation zur Hand nahm, sah ich darin einen Raum abgebildet und beschrieben, der den Blick auf sich zieht, ihn aufsaugt, zugleich aber ein eigenes Ego zu haben scheint, einen Raum, der ebenso gut den Betrachter anschauen könnte. Dies ergibt sich a) aus der Tatsache, dass der Raum Fensteröffnungen hat, durch die der Betrachter hineinschauen und so Teilhaber einer ästhetischen Erfahrung in der Tradition eines Anish Kapoor werden kann, und b), weil die Betrachter ihrerseits vom konzentrischen Mittelpunkt des Objekts aus wie in ovale Rahmen eingefasst zu Porträts werden.

Kurt’s Zimmer erinnert mich stark an die Obsession des französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) mit dem Panopticon, einem Kuppelgefängnis, in dessen Mitte der kreisförmig angeordneten Zellen sich ein Beobachtungsturm befindet. Die Zellen sind an der Außenseite des Gebäudes angeordnet und grenzen nach innen an überdachte, ringförmig angelegte Korridore. Das Herzstück ist der Turm der Gefängniswärter, die die Gefangenen jederzeit beobachten können, ohne selbst gesehen zu werden. Ähnlich verhält es sich mit Kurt’s Zimmer, dessen Mittelpunkt im Unendlichen verschwindet. Der Gefangene im Panopticon weiß nicht, wann er beobachtet wird, wie auch der Betrachter, der in Kurt’s Zimmer hineinschaut, nicht weiß, ob er gesehen wird.

Meine Befunde zu Kurt’s Zimmer Publikation

– Etwas vorfinden ist etwas anderes als etwas finden,

– Aussicht ist etwas anderes als Unendlichkeit,

– Eine ästhetische Erfahrung ist etwas anderes als eine Erfahrung jenseits der Ästhetik,

– Philosophieren ist etwas anderes als eine Geschichte erzählen.

Etwas vorfinden ist etwas anderes als etwas finden.

Ohne genau zu wissen, was, schieben sich bei Karin van Pinxteren Dinge ineinander. Ohne, dass sie genau wüsste, was sich ineinander schiebt, haben diese Dinge eine Form. Eine Bildlichkeit, eine Gestalt, die zugleich da ist und nicht da ist.

Aussicht ist etwas anderes als Unendlichkeit.

Bei Karin van Pinxteren geht die Aussicht, das rahmbare Blickfeld, ins Unendliche über, ein Blickfeld, das sich in der Tiefe in einen ungreifbaren Fluchtpunkt verwandelt.

Eine ästhetische Erfahrung ist etwas anderes als eine Erfahrung jenseits der Ästhetik.

In Kurt’s Zimmer wird der Mikrokosmos – die ästhetische Erfahrung – durch den Makrokosmos – das ästhetisch Jenseitige – absorbiert.

Philosophieren ist etwas anderes als eine Geschichte erzählen.

Im Angesicht des ästhetisch Jenseitigen wird jeder Boden bodenlos. Luft und Erde werden eins, alles hüllt sich in einen Schleier, der Nähe und Ferne verbindet, der das Endogene und das Exogene in sich vereint. Dieses Gesamt ist keine Ansammlung, vielmehr ist es ein Vakuum, das sich entzieht, wie etwa das Nichtleben oder das, was sich jenseits des Universums befindet.

Und doch! – es zeigt sich in einem Bild, wird auf die Erde projiziert, greifbar durch das Erleben von Geschichten oder die Erfahrung des Jenseitigen. Das sich Entziehende erhält im ästhetisch Jenseitigen seine Form, die Form der Religion, die Form der Angst, die Form der Ekstase. Kurz: die Emotion, die wir mit anderen Primaten teilen.

3. Kurt’s Zimmer

Das Prinzip des Panopticons geht davon aus, dass der Gefangene, die Person, die in den zentralen Punkt hineinschaut, diszipliniert wird. Dadurch, dass sie buchstäblich unter Aufsicht steht, soll sie sich “regelkonform” verhalten.

Wendet man diesen Grundsatz auf Kurt’s Zimmer an, so wird deutlich, dass nicht der Wärter, sondern das ästhetisch Jenseitige die Aufgabe der Disziplinierung übernimmt. Das Höhere jenseits der Ästhetik manifestiert sich im Empfinden eines Vakuums, das Endogene drängt sich – ohne ein Gesicht zu haben – auf.

Das Objekt spielt mit seinen Betrachtern, indem es die menschliche Unwissenheit um das Unbekannte[1], wie auch die Emotionen, die dieses Unbekannte auszulösen vermag, vorwegnimmt. Es beweist uns, dass Bilder und Geschichten, sobald sie ohne besonderen Anlass, quasi zufällig, zu einem assoziativen Ganzen zusammengetragen werden, eine ungeahnte Kraft besitzen. Eine Kraft, die für manche das “Höhere”, das “Jenseitige” ist.

Kurt’s Zimmer führt uns vor Augen, dass die Emotion eine mächtige Mahnerin ist. Sie zeigt uns das, indem sie den Betrachter in ein Reich entführt, das von unserer Physis und Psyche Besitz ergreift.

Kurt’s Zimmer führt uns vor Augen, wie gerade die Religion, der Glaube an das Höhere, Jenseitige, uns – da es uns an einen Ort mitnimmt, den es nicht gibt – bisweilen an Leib und Seele verarscht.

© Freek Lomme, Eindhoven, De Kantlijn, Kunstjournal aus den südlichen Niederlanden und Flandern, 29 März 2008


[1] Wie kann man mit etwas spielen, das man nicht kennt….?

Kurt’s Zimmer Publikation, 2007