Kurt’s Zimmer als existenzielles Denk-Bild

Kurt’s Zimmer Publikation, Karin van Pinxteren, 2007

Ulco Mes

“Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden.” Kurt Tucholsky, “Der Mensch”, in: Die Weltbühne, 16. Juni 1931

“Was kann überhaupt ein Fremder sehen?” Kurt Tucholsky, Ein Pyrenäenbuch, (zitiert nach rororo Taschenbuch 474, 1962, S. 130)

Natürlich, wir sind Zuschauer, Betrachter, Beobachter. Aber wie können wir uns Kurt’s Zimmerannähern? Nehmen wir den Titel von Karin van Pinxterens Arbeit – er verweist auf Kurt Tucholsky. Der gebürtige Berliner und promovierte Jurist war in jüdischer Tradition aufgewachsen und machte in der Weimarer Republik als politisch engagierter Journalist und Schriftsteller Karriere. In seinen gesellschaftskritischen Schriften zielte er vor allem auf Kirche, Obrigkeit, Beamtentum und Militarismus. Schon früh warnte er vor den Gefahren des Nationalsozialismus. 1933, das Jahr, in dem Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, wurde Tucholsky, der inzwischen seinen Wohnsitz nach Schweden verlegt hatte, die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Auch seine Bücher waren von da an in seiner Heimat verboten.

Tucholskys Leben bietet verschiedene Anhaltspunkte für die Deutung von Kurt’s Zimmer, zumal, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Karin van Pinxterens Werk in Vught entstand. In Vught lag auch das niederländische KZ Herzogenbusch (nld.: Kamp Vught), das einzige KZ außerhalb des Deutschen Reiches, das direkt der SS unterstand. In der kurzen Zeitspanne des Bestehens dieses Durchgangslagers, vom Januar 1943 bis zum September 1944, waren hier rund 31.000 Menschen interniert, unter ihnen Juden und politische Häftlinge. Wie Tucholsky waren auch sie Verfolgte des Nationalsozialismus. So kann man Kurt’s Zimmer im Licht der Grundrechte werten, die die Freiheit des Glaubens, der religiösen und politischen Anschauungen sowie die Meinungs- und Pressefreiheit schützen. Man sollte zudem wissen, dass in Vught auch das Hochsicherheitsgefängnis Nieuw-Vossenveld liegt. Während Karin van Pinxteren an Kurt’s Zimmer arbeitet, ist dort der Mörder des niederländischen Filmemachers und Publizisten Theo van Gogh, Mohammed Bouyeri, inhaftiert. Im Rahmen dieser Reflexion ist nicht unerheblich, dass Theo van Gogh wie auch Tucholsky, das Opfer gewalttätigen Vorgehens gegen die Meinungsfreiheit geworden ist.

Kurt's Zimmer - Karin van Pinxteren
Kurt’s Zimmer | installation | mixed media | 380 x 380 x 296 cm | Kurt’s Zimmer Walz by Maarten van der Vleuten | 2006 (photo Peter Cox)

I

Kurt’s Zimmer lässt sich zudem aus einem Blickwinkel interpretieren, der die menschliche Existenz in den Mittelpunkt rückt. In diesem Zusammenhang sind zwei Dinge interessant. Zum einen liest Karin van Pinxteren während ihrer Arbeit in Vught nicht Tucholskys politische Schriften, sondern sein 1927 veröffentlichtes Buch über die Pyrenäen. Was Ein Pyrenäenbuch so besonders macht, sind nicht die Reisenotizen, sondern Tucholskys Beobachtungen der Menschen und seine existenziellen Überlegungen. Zum anderen ist es aufschlussreich, dass Karin van Pinxteren Kurt’s Zimmer 2007 im Museum van Bommel van Dam Venlo ausstellt, in einer Umgebung, die sie als “existentielles Interieur” charakterisiert. Damit verknüpft sie ihre Installation nachdrücklich mit dem Kontext des Individuums und seines Daseins.

Aus ihren früheren Arbeiten lässt sich bereits ableiten, dass die menschliche Existenz für Karin van Pinxteren ein Kerbthema ist. Bezeichnend dafür ist z. B. Approach’ (2003), eine Installation, die sich in der Sammlung des Museum van Bommel van Dam befindet. Darin wird der Betrachter mit dem projizierten Text “share your warmth with me” konfrontiert. Eine Aufforderung, die allerdings keinen Aufschluss darüber gibt, wer da auffordert. Die Anwesenheit des Betrachters vor Ort wird dadurch intensiviert. Ähnliches passiert in Comfort Food. In dieser Installation, die 2004 in der Nederlandsche Cacaofabriek in Helmond zu sehen war, führt ein Catwalk auf eine Wand zu, auf der mit roter Farbe steht: “stay with me”. Ein drittes Beispiel ist die ebenfalls aus dem Jahr 2004 stammende Installation Creature, die Karin van Pinxteren in dem völlig abgedunkelten Schauraum Argument Vertoningsruimte in Tilburg zeigte. Dort lädt der Text “give me your order” zu Reflexion und Selbstreflexion ein. In den drei Arbeiten evoziert eine anonyme Aufforderung beim Betrachter Fragen über seine Anwesenheit und seine eigene Existenz. Wer ist der andere, der sich an mich wendet? Warum werde ich aufgefordert, etwas zu tun? Kann ich die Aufforderung ignorieren? Wie verhalte ich mich zu diesem anderen? Wer bin ich?

Auch Kurt’s Zimmer führt schlussendlich zur Selbstbespiegelung. Natürlich, der andere, dessen Existenz nicht zuletzt durch den Titel der Arbeit suggeriert wird, der gewöhnlich klingende Walzer und die rotierende Lampe in der zentrierten Säule, dieser andere ist auch da. Und doch sieht der Betrachter den anderen nicht. Thematisiert Karin van Pinxteren hier den Umstand, dass wir einen anderen niemals wirklich kennen und ergründen können? Dass Menschen in gewisser Weise einander immer fremd bleiben? Eines ist sicher, die Unzugänglichkeit von Kurt’s Zimmer, die Leere des Interieurs und die Stille nach der Musik werfen den Betrachter in letzter Instanz auf sich selbst zurück. Und noch etwas kommt hinzu: Wenn ein Betrachter durch eines der Löcher in der Wand ins Innere schaut, positioniert er sich selbst unwillkürlich in einen ellipsenförmigen Rahmen. Ungemerkt wird seine Anwesenheit umrahmt und seine Existenz herausgehoben. Und das um so deutlicher, als sein Gesicht in regelmäßigen Abständen vom gelben Schein der rotierenden Lampe eingefangen wird. Als ob Kurt’s Zimmer sagen will: Tja, da bist du! Oder besser noch: Wer bist du?

II

Schon immer hat sich der Mensch mit seiner Existenz, seiner Gegenwart in der Welt auseinandergesetzt. Das resultierte in zahllose Überlegungen und Anschauungen über das menschliche Sein, über Geburt und Tod, über Genießen und Leiden, über freien Willen und Vorbestimmung, über Gut und Böse und vieles mehr. Die Frage nach Gut und Böse ist eine ethische, die unmittelbar mit der Frage nach der Beziehung des Menschen zu seinem Mitmenschen verknüpft ist. Tucholsky hat die Gesellschaft, deren Teil er war, ausführlich studiert. Als Mensch, als Jurist, als Journalist und als Schriftsteller hat er sich gefragt, wie bestimmte sozialökonomische Entwicklungen und Gewalttätigkeiten überhaupt möglich waren. Dabei hat er auf unmissverständliche Weise gegen die Macht von Kirche, Staat und Militär Stellung bezogen. Was treibt einen Menschen, dass er diesen Weg gehen kann und gehen will? Karin van Pinxteren hinterfragt, als Mensch und als bildende Künstlerin, das Sein in unserer Zeit. Dabei thematisiert sie unterschiedliche Aspekte, wie Genießen und Leiden, Freiheit und Gebundenheit und die Beziehung zwischen dem Ich und dem anderen. Warum sollten wir ihre eingangs erwähnten Arbeiten mit Aufforderungen wie “share your warmth with me”, “stay with me” und “give me your order” nicht aus existenziellem Gesichtspunkt überdenken?

Und Kurt’s Zimmer? Der verwunderte Betrachter wird entdecken, dass bei der Installation von Karin van Pinxteren unterschiedliche Lesarten möglich sind. Welchen Blickwinkel der Betrachter auch wählt, in seinen Überlegungen wird er letztendlich auf sich selbst zurückgeworfen, auf seine eigene Existenz und die Reflexion seines Daseins. Und das ist es, was Kurt’s Zimmerwomöglich vor allem leistet: es fungiert als existenzielles Denk-Bild.

© Ulco Mes, Kunsthistoriker, ‘Kurt’s Zimmer Publikation’, 2007, Übersetzung Kordelia Nitsch